Der Kuß in der Vollmondnacht

(Romanze in deutscher Tradition)

Siehst du unter dunklen Eichen 
in der mitternächtgen Au 
jenen elfenzarten, bleichen 
Umriß einer weißen Frau? 

Seufzend pflegt sie hier zu schreiten 
durch die vollmondhelle Nacht, 
denn in längst vergangnen Zeiten 
hat ihr Mann sie umgebracht. 

Ach, ihr Ende war sehr blutig, 
und so spukt sie voll Verdruß, 
bis ein Jüngling, schön und mutig, 
sie durchglüht mit seinem Kuß. 

Liegt nicht heut schon auf der Lauer 
jener Mann, der sie erlöst? 
Ja, er ist’s! Doch sieh genauer – 
er ist leider eingedöst. 

Endet so die Geisterstunde, 
ohne Kuß, dann währt noch lang 
dieser Spuk. Aus ihrem Munde 
tönt ein Wimmern, laut und bang. 

Das erweckt den Jüngling plötzlich. 
Er springt auf, schlingt seinen Arm 
eng um sie – oh wie ergötzlich! 
Da blüht Leben, jung und warm! 

Ihre Haut fühlt er wie Seide, 
ihren Mund wie weichen Samt. 
„Morgen, Liebste, gehn wir beide 
schleunigst auf das Standesamt.“

Oswald Köberl


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