Schere und Stein

Durch das mit dünnem Tüll verhängte Fenster fiel Licht. Sanft und silbern, wie es nur der volle Mond zaubern konnte. Es fiel durch den Tüll und warf zarte Schatten auf eine kleine seidig schimmernde Mahaghonny-Kommode. Außer dem ruhigen Atem des Schläfers war kein Laut zu hören.

Dekorativ stand eine kleine Schale auf der Kommode, angefüllt mit den Erlebnissen des Sommers: Schneckenhäuser, Muscheln, Krebsarme, ein wenig Sand von einem fernen Strand und Steine; einige vom Wasser glatt geschliffen, manche mit skurrilen Formen. An der Wand über der Schale hing eine Schere, griffbereit für Eventualitäten. Sie blickte mit ihren leeren, aber sehr wachsamen Augen hinunter auf die Schale und inspizierte den Inhalt. Die 28. Nacht schon. Das Gefühl war von Nacht zu Nacht stärker geworden und nun, bei dem sanften Silberlicht des Mondes konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Sie fasste einen der Steine ins Auge und sagte leise, kaum hörbar:
„Ich bin scharf auf dich.“
Keine Antwort.
„Hast du nicht gehört?“ setzte sie hinzu, nun eine Nuance lauter. „Sei doch nicht so stur.“

Der Stein rückte und rührte sich nicht. Das war zu viel für die hochkochenden Emotionen der scharfen Schere. Sie unternahm einen direkten Angriff und sprang vom Haken in die Schale. Ihre ausgebreiteten Schnittflächen blieben rechts und links des Steines stecken. Weiteren Halt fand sie an dem Rücken einer großen Muschel, die ob solcher Dreistigkeit sprachlos war.
„Nun fühlst du sicher meine Schärfe, mein kühles Metall“, seufzte die Schere, ohne allerdings eine Antwort zu erhalten.

Der Vollmond zog seine Bahn und sein Licht verließ das Fenster. Er wanderte weiter und letztendlich versanken Tüll und Kommode im Dunkel der Nacht. Kurze Zeit später schob der aufdämmernde Morgen ein fahles Grau vor sich her und durch das verhängte Fenster in das Zimmer, in dem ein Wecker die Stille durchbrach.

Nach der allmorgendlichen Badezimmer-Prozedur entdeckte ihr Besitzer die Schere zwischen den Steinen. Er war keineswegs stolz auf sie. Sie hatte es erneut geschafft, in nur einer Nacht stumpf zu werden.

Margret Silvester

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