Melodie der Nacht

Er fährt hinaus in die Wälder hinter E. Die untergehende Sonne überzieht die farbigen Blätter der herbstlichen Bäume mit einer dünnen Schicht lauteren Goldes, welches durch den aufkommenden Abendwind zwischen die grauen Stämme und über das wüst verstreute Unterholz gewirbelt wird. Leise rauschen die Wipfel und erzählen sich die Begebnisse des Tages zu und sie nehmen ihn auf wie einen lang vermißten Freund. Hinter den zwei übergrünten Wasserspeichern, die wie Frauenbrüste sich aus der Landschaft erheben, setzt er sich und schaut weit in die Ebene, über die Stadt hinaus.

Vom Blätterdach einer Eberesche, deren Früchte noch rot im Abendlicht leuchten, beschützt, sitzt er allein unter dem weit ausgespannten Himmel und es überkommt ihn das Bedürfnis, diesen unendlichen Raum zwischen den Horizonten auszufüllen. Doch Reden will er nicht, denn das Reden mit sich selbst macht einen verrückt und noch schlimmer: das ausgesprochene Wort läßt diese wunderbare große blaue Glocke aus Luft und Dunst und Phantasie, welche sich über einem wölbt, mit schrillem Laut zerspringen.

So sucht er nach etwas Schwingendem, etwas weithin Tragendem, dessen Klang alle die Rundungen ausfüllen kann, sich in die Rundungen einfügt und mit ihnen zum Klingen kommt. Und tief in ihm erinnert sich die Seele an die Melodie der einsamen Berge und seiner einsamen Stunden in diesen Bergen und er beginnt, eine Tonfolge von Stille, Wind, und Grasgeflüster und Vogelsang leise vor sich hin zu summen. … und das summen schwillt an, kommt in resonanz mit der stimmung des abends, steigt empor bis zum scheitel des himmels, bis es als dröhnender akkord sein bewußtsein ausfüllt und sich glockengleich über die landschaft wölbt, wie in den bergen, läutet der ganze weite himmel in seinem ohr und er hat nie schöneres gehört …

Ein Knacken hinter sich im Walde, ein Rascheln im Gebüsch, zieht ihn zurück in die Wirklichkeit und er wird traurig darüber, daß ihm nicht die Gunst gegeben ist, solche Art Melodie einzufangen, sie niederzuschreiben und sie an anderem Ort wieder zum Klingen zu bringen.

Leise nun geht der Abend die Nacht besuchen. Das Zelt spannt über dem Lande Sterne auf, kleine Leuchten, die, Silbertalern gleich, auf ihn herunterklingen. Er schaut auf die Stadt, die ihre eigenen Lichter in den Himmel wirft und dabei den Dunst und den Staub über sich erhellt. Die Bäume heben sich schwarz vor dem mondhellen Himmel ab. Kühl gewordener Wind fährt ab und an in das am Boden liegende trockenen Laub, wirbelt es umeinander, so, daß es manchmal den Anschein hat, quirlige Wesen, Gnome und Elfen, drehen sich im Tanze und locken wispernd, mit ihnen zu gehen in die Anderwelt, in die eigentliche Heimat, welche er seit seiner Geburt noch immer nicht hatte finden können, und die er heute immer noch am Suchen ist auf seinen langen einsamen Wanderungen durch den Raum und durch die Zeit.  Und zwischen den gleitenden Schatten der Nacht vermeint er eine Bewegung im mondlichtsilbernen  Glanze wahrzunehmen. Eine Gestalt, so fein und so durchsichtig wie eine Elbin. Seine „Fee des Waldes“ ist es, die da heraufschreitet auf der Bahn der Mondstrahlen. Und sie singt die eben verklungene Melodie seines Herzens. In ihre Stimme mischt sich der Klang so vieler Instrumente, die er bisher nie hatte vernehmen können in dem Lärm der Motoren  im Lärm der Menschen der Stadt.

Später kann er nicht sagen, was er in dieser Melodie alles hatte hören können, sehen können und fühlen und er weiß nur noch, daß hierin alles enthalten war, was sein Leben bisher füllte. Geschehnisse, die er wieder erinnerte und auch solche, von denen er noch nichts ahnen konnte.

… er sieht sich als kind am bache die angel auswerfen und seine erste forelle fangen, sieht sich mit anderen auf die jungen mädchen schielen und sich gedanken machen, wie das wohl sei mit der liebe und einer liebsten und wann denn das wohl käme für ihn und wie es dann wohl sein würde, sieht sein erstes stelldichein am strande der see und wie auch dieses wieder in vergessenheit geraten ist; sieht sich als jungen mann auf der bühne für andere menschen singen und spielen und tanzen und er sieht auch die zeit seiner großen verliebtheit, die überging in eine frohe zeit der zweisamkeit, aus der dann die fröhliche zeit der drei- und viersamkeit wurde, und aus welcher viel später, nachdem die kälte des lebens durch die herzen zog, auch die einsamkeit geworden war; er sieht seine mutter vorausgehen auf dem breiten, lichten weg allen nichtmehr-seins; sieht den vater bleiben; sieht sich seinen geschwistern entfremden und sieht freunde kommen und gehen, wobei nur die wenigen, die treuen er sich heute noch zur seite stehen lassen und mit denen er gemeinsamkeiten haben will; und auch die sehnsucht nach einem menschen fühlt er, der wie er auf der suche nach sich selbst und nach einem anderem ist; all diese sehnsucht sieht er im geflecht des lichtes, er hört das brausen der zeit, das raunen der winde, hört das schaukeln der wolken und sieht andere menschen glücklich ihrer wege gehen oder auch, versunken in ihrem schmerz, anderen ausweichen; und er sieht sich hart werden gegen sich selbst und manchmal auch gegen andere; manches was er in die ordnung bringen wollte, sah er sich in unordnung bringen, und er schämt sich mancher seiner taten und auf andere ist er stolz, denn einmal getan, einmal den dingen einen anderen verlauf durch eigene handlung gegeben, kann er diese nicht mehr rückgängig machen, nie mehr rückgängig machen im trichter der zeit, die nur vorwärts sich zählen läßt und die das morgen zum ‚fast heute‘ und das heute ‚fast immer schon zum gestern‘ macht und so die folgen seiner taten, für alle, die es sehen wollen und können, bis in alle ewigkeiten sichtbar bleiben; aber wenn sich aus diesen taten und irrwegen neue ordnungen fügen.., so ist das nicht sein Verdienst …

All dies Geschehen, die unendliche Welt aus Zeit Gesteinen, Pflanzen, Tieren und Menschen wogt vor ihm in farbigem Wirbel und läßt eine Ordnung erkennen, ein Ornament, einem Mandala gleich; lebend und sich bewegend, sich verändernd mit jedem Herzschlag und jedem Pulsschlag der Zeit. Formen wandeln sich, gebären Neues, Altes verändert sich, vergeht, verschönert sich.
Vielfalt des Lebens!

… und er ward bestandteil dieses gewaltigen spieles, ward einbezogen, veränderte mit seinen gedanken und mit seinem tun, ward nicht bloß zuschauer, sondern auch ein gestalter und er weiß, daß aus jeder seiner bewegungen, seiner taten, aus jedem seiner gedanken neue  wirklichkeiten entstehen und sich entfalten und sich ausbreiten, wie die wellen, die ein stein auf der oberfläche des sees der zeit an den strand des lebens fächern läßt.

Und dabei sieht er immer noch die lichtfeine Gestalt in den Himmel gehen, höher und höher hinauf und sie singt seine Seele, seine Gedanken, sein ganzes Wollen mit sich, zu sich hin, bis sie in der Helle des vollen Mondes eingeschmolzen wird.    

Als  ihn die Nachtkühle zusammenschauern läßt, zieht er sich die wärmende Jacke um seine Schultern enger und er wischt sich den kühlen Tau von den Schuhen. Aber Innen, tief Innen in sich, spürt er eine Wärme, eine Heiterkeit von diesem Traumgesicht sich ausbreiten und er steht auf, streckt sich der Nacht entgegen und grüßt, wie immer, die uralten, jungen Göttinnen und Götter des Lebens und dankt ihnen für diese Vollmondnacht.

Und dann er tritt mutig einen Schritt auf seinen Traum zu, greift in den runden, silbernen Mond, nimmt die Fee herunter in seine Arme und küßt sie auf den Mund.

„Das einzig Wirkliche, woran ich Dich immer erkenne in dieser Zeit, sind Deine Augen“, sagt er leise.

Doch sie schiebt ihn sanft von sich: „Ach, hast Du es denn immer noch nicht begriffen? Ich bin es doch vielleicht gar nicht, die Du suchst. Wir haben nur alle die gleichen Augen. Als wenn Du das nicht wüßtest!“

Er wußte es ja schon immer. Und trotzdem will er nicht länger mehr auf der Suche sein. Nicht in dieser Nacht des herrlich gleißenden Nachtgestirns.

ian-jonathan der weiße schatten

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